Erst musste ein Fremder kommen, ein Fremder, der seinen Mantel ĂŒber sie breitete, schwarz, wie RabenflĂŒgel, der ihre Hand nahm und zu ihr sprach:
Geh.
Du bist frei.
Hinter dem HĂŒgel liegt der Wald, hinter dem Wald kommt eine Ebene, in dieser Ebene ist ein nasskalter See, an dessen Ufer steht ein Winterbaum und drei Erlen. Sie bilden einen Hain.
Dort kannst du wohnen.
Frei und allein.
Brauchst du etwas zu essen, fĂ€ngst du Fische, pflĂŒckst Beeren, sammelst GrĂ€ser.
Aber.
Dort gibt es niemanden, der dich schlĂ€gt. Niemand, dessen Willen du erfĂŒllen musst. Dieser deiner verlorenen Welt musst du nicht nachtrauern.
Allerdings ist dort auch niemand, der fĂŒr dich sorgt, niemand der dich in den Arm nimmt, niemand, der dich streichelt und dir kleine Koseworte ins Ohr flĂŒstert. Du kannst schreien, toben und weinen, niemand wird dich hören. Wird dir langweilig, kannst du mit den MĂŒcken ĂŒber dem See tanzen oder mit den Fröschen um die Wette hĂŒpfen.
Dein Preis fĂŒr deine ganz private Wahrheit ist Einsamkeit:Du allein wirst wissen, dass auch diese Wahrheit eine LĂŒge ist, so wie die meisten Wahrheiten, die nur gelten, wenn man fest genug an sie glaubt.
Sie lieĂ die Hand des Fremden los und ging ein paar Schritte, nicht viele, so einfach lĂ€uft es sich nicht in ein neues Leben. Sie wollte ihm den Mantel zurĂŒckgeben, der sie immer noch so warm umhĂŒllte, doch als sie nach hinten sah, war niemand zu sehen. Niemand auĂer einem schwarzen Raben, der zwischen den Furchen im Feld hopste und im Auffliegen missmutig krĂ€chzte. Es klang wie: Du schaffst das. Oder nicht? Sie war sich nicht sicher. Sie war sich nie sicher, in dem, was sie wollte, sie hatte immer nur darauf geachtet, dass niemand etwas von ihren LĂŒgen, ihrer Zerrissenheit, ihrem ich-weiĂ-nicht-was-in-mir-vorgeht mitbekam. Bis heute.
Drei Begriffe gilt es in 300 Worte zu verpacken, in diesem Fall waren es: Winterbaum, nasskalt und nachtrauern. Die anderen Geschichten der abc.etĂŒden gibt es wie immer bei Christine.