Insgesamt 120 Stufen muss ich steigen, will ich hoch oben vom Bismarckturm ĂŒber das Kasseler Becken blicken. Er steht auf dem Brasselsberg, ist einer von ehemals 240, von denen noch 173 in ganz Deutschland verteilt stehen.

Stufen im Inneren des Bismarckturmes
Bis ich dorthin komme, gehe ich Stadtrand entlang, einem Stadtrand der ganz anderen Art. WĂ€hrend an anderen RĂ€ndern Industriegebiete die RĂ€nder ausfransen, grenzt hier die Bebauung direkt an das Naturschutzgebiet. Alles ist mit Hecken blickdicht bepflanzt, selbst Kinderlachen klingt nur gedĂ€mpft hindurch. An der StraĂenbahnschleife Druseltal weist der Wegweiser auf den linken der sternförmig verlaufenden Wege, wenn ich schnell und direkt zum Turm kommen will. Da ich die Wegmarkierung bereits an der nĂ€chsten Ecke nicht mehr finde, nehme ich den lĂ€ngeren Weg, Zufall sei Dank.

Meine Schritte knirschen auf dem Splitt. Bleibe ich stehen und lausche, kann ich hören, wie die dĂŒrren BlĂ€tter von Buche und Ahorn leise raschelnd auf den Boden fallen. Ich bin im Habichtswald, doch nicht weit von mir entfernt ruft ein Falke, kurz danach ein zweiter. Als ich weitergehe, fliegt einer auf und der zweite bleibt sitzen. Ich gehe nicht zu ihm, was sollte ich da auch? Sind sie am Fressen, störe ich nur. Ist einer verletzt, kann ich ihm auch nicht helfen, zu groĂ wĂ€re seine Angst vor mir. Ist es ein Jungvogel, der sich zu frĂŒh aus dem Nest gewagt und jetzt auf dem Boden nicht starten kann nun, der muss allein Fliegen lernen. Ich kann es nicht.

Ich laufe an den Bilsteinklippen vorbei, steige einer von ihnen auf den von hinten so unscheinbar anmutenden RĂŒcken, und staune, wie weit es vorne in die Tiefe geht.
Bald ragt vor mir der Turm auf, quadratisch, fest aus Basalt gefĂŒgt. „GötterdĂ€mmerung“ nannte der Architekt seinen Entwurf, jetzt steht er da, mit dem Sockel im Schatten, in der DĂ€mmerung, doch die Spitze sonnenbeschienen.

Von hier oben ist schlieĂlich die Sicht weit, eine Tafel erklĂ€rt, was ich sehen kann. Die kleinen Sorgen, sĂ€mtliche Ausreden, alles, was mich tagsĂŒber beschĂ€ftigt, blĂ€st der Wind einfach fort. Ja, ich kann hier den ganzen Tag einsam und allein mit mir und fĂŒnf Katzen verbringen, am Computer sitzen, schreiben, lesen, nachdenken, manchmal klingen die Stimmen der Nachbarn und das Geschrei der Kinder bis zu mir und wenn ich denke, och mönsch, muss das jetzt, könnt ihr nicht leise, denke ich auch daran, dass das heute die einzigen menschlichen Laute sind, die ich höre.

Ich war nie viel allein, immer war noch jemand da, der was wollte, der mich brauchte, doch jetzt, seit die Lieblingshausziege nun ausgezogen ist, kann ich ganz allein und einsam sein, ausprobieren, ob mir das zusagt – oder eher nicht.
Sicher, ich habe hier in der Stadt mal gewohnt, einige Jahre sogar, ich könnte im Telefonbuch oder eher im Internet nachsehen, wer hier noch wohnt, von denen, die ich kenne.
Ich lasse es.
Ich wĂŒsste im Moment nicht, woran ich knĂŒpfen könnte, es gibt ja seit Jahren nichts Verbindendes mehr. Wir könnten uns nur gegenseitig erzĂ€hlen, was wir jeweils erreicht, wo wir gewesen, was wir gemacht, doch danach geht jeder wieder seines Wegs, nach einem „schön war’s“ und „meld dich mal wieder“ vergisst jeder auch gleich, was der andere gesagt hat.
Das also nicht.
Verbunden mit: Czoczo und dem Black und White-Bild des September.Â