Klosterzeit war Lesezeit: In den Zimmern gab es weder Internet noch Fernseher und gleichzeitig war das Wetter so usselig, dass wir keine Lust auf lĂ€ngere SpaziergĂ€nge oder gar Wanderungen verspĂŒrten. GlĂŒcklicherweise hatte ich genĂŒgend Lesestoff dabei, dicke BĂŒcher sind ohnehin fĂŒr solche Tage ausgezeichnet. Ich kann regelrecht in ihnen versinken und muss nur gelegentlich zum Essen auftauchen.
Jiang Rong: „Zorn der Wölfe“
Chen Zhan ist das Alter Ego des chinesischen Autors. In den 60er Jahren reist er von Peking in die Innere Mongolei, ein Gebiet, in dem Nomaden ihre Tiere zĂŒchten. Er muss sich in einer ihm unbekannten Welt zurechtfinden und ist fasziniert. GlĂŒcklicherweise hat er einen alten Mongolen, Bilgee, als Lehrer an seiner Seite. Dieser erzĂ€hlt ihm von den Traditionen und Mythen der Mongolen, die eng mit dem Schicksal der dort ebenfalls lebenden Wölfe verknĂŒpft sind. Eine der faszinierendsten Szenen erzĂ€hlt, wie Chen an Bilgees Seite in einer kalten Winternacht ein Wolfsrudel und dessen Angriff auf eine Gazellenherde beobachtet. Dabei entwickeln die Tiere eine geschickte Taktik und nutzen die komplexen Strukturen des Rudels.
FĂŒr die mongolischen Nomaden ist der Wolf nicht einfach ein Gegner, der ihre Herden dezimiert, er ist Ahne, Vorbild, HĂŒter und Totemtier des Graslandes zugleich. Als Chen Mitleid mit den Gazellen Ă€uĂert, wird Bilgee wĂŒtend: Das Gras und das Grasland gehört fĂŒr die Mongolen zum GroĂen Leben, wĂ€hrend Wolf, Mensch und Gazelle zum Kleinen Leben gehört. Die Existenz des Grases ist fragil, seine Wurzeln sind kurz und es kann sich nicht vom Fleck rĂŒhren, erklĂ€rt der Alte. Der Wolf sorgt hingegen dafĂŒr, dass alles im Gleichgewicht bleibt.
Mongolische JĂ€ger sind SchĂŒler der Wölfe, weist der Alte auf die Taktik hin, mit denen einst das Hirtenvolk mit groĂer militĂ€rischer Schlagkraft durch Asien und Europa fegte und das gröĂte Reich ĂŒberhaupt errichten konnte.

Wolf im Tierpark
Chen ist fasziniert, fĂ€ngt einen Wolfswelpen und zieht ihn auf. Das ist fĂŒr die Mongolen ein solcher Tabubruch, dass er damit fast seine Freundschaft zu Bilgee aufs Spiel setzt. Doch als immer mehr Chinesen in die innere Mongolei kommen, die Wölfe jagen, töten und vertreiben, wird die fragile Balance zwischen Tieren und Boden zerstört. Die Neuankömmlinge wollen das Grasland zu Ackerland umgestalten, doch es dauert nicht lange, und das Grasland wird WĂŒste.
Jiang Rong ist ein Pseudonym. Der richtige Name des Autors ist Lu Jiamin, er war mehrere Jahre als politischer Gefangener inhaftiert. In China hĂ€tte er unter seinem richtigen Namen niemals ein solches Buch veröffentlichen können, ist sich der Autor sicher. Die Geschichte, die auf autobiografischen Erlebnissen beruht, wurde in China zum Bestseller. Rong kritisiert die Umweltzerstörung des Landes ebenso, wie dessen Wahn zur Modernisierung. Er zeigt, wie selbst durch kleine VerĂ€nderungen ein ĂŒber Jahrtausende wirkendes Gleichgewicht nachhaltig zerstört werden kann.
In China und der Mongolei werden gerade die anthropologischen Thesen diskutiert: Rong verglich die Han-Chinesen mit den Schafen und deren trÀgem Gehorsam, basierend auf den konfuzianischen Traditionen, die Mongolen hingegen mit den freiheitsliebenden und unabhÀngigen Wölfen, die gleichzeitig auf die Erhaltung ihres Graslandes achteten, als Grundlage ihres gesamten Lebens.
âIn Zukunft werden wir unsere gröĂten KĂ€mpfe nicht zwischen LĂ€ndern oder Völkern austragen, sondern gegen die Umweltzerstörung fĂŒhren. Naturkatastrophen werden die LĂ€nder zur Zusammenarbeit zwingen. Es versetzte mich in Schrecken zu erleben, wie ein Ăkosystem, das seit Jahrtausenden bestand, in nur einem Jahrzehnt zu Staub zerfiel. Mein Buch ist eine Lektion fĂŒr die Welt.â
Jiang Rong: Zorn der Wölfe (Ăbersetzer Karin Hasselblatt unter Mitarbeit von Marc Hermann und Zhang Rui)
ISBN: 978-3-442-47395-3
erschienen 2010 bei Random House, als Hardcover, Taschenbuch, e-Book und Hörbuch erhÀltlich